Kategorien
Lehrreich

Lese-Splitter über Leben und Tod

Lese-Proben für Interessierte an Literatur zum großen Thema Tod

Foto: Melisande Krohn

Die Lese-Splitter sind für alle gedacht, die einen Vorgeschmack auf ein Buch, einen Autor finden und sich inspirieren lassen möchten – von Splittern eines Mosaiks aus Buchstaben.

Zsuzsa Bánk: Sterben im Sommer
S. Fischer Verlag, 2020

Unser ganzes Leben verwenden wir darauf, den Tod auszusperren und fernzuhalten. Jeden Morgen schauen wir in den Spiegel, ohne den Tod mitzudenken, jeden Abend legen wir uns mit der Sicherheit ins Bett, am Morgen zu erwachen. Wir kreisen ums Leben, immerzu denken wir ans Leben, das sich Tag für Tag fortsetzt, ohne dass wir etwas zu unternehmen brauchen, ohne dass wir etwas veranlassen müssen. Und dann, eines Tages, sollen wir den Tod plötzlich anerkennen? Wir sollen zugeben, ja, er ist vorhanden? 

Davor war es anders gewesen, der Tod war entfernt, kaum vorhanden, meine Gänge zum Friedhof, zu einer Trauerfeier waren rar; bei den Freunden, die jung starben, waren es unbegreifliche Ausflüge, von denen ich bald zurückkehrte und die mich nie hinderten, mein Leben wieder aufzunehmen. Aber dieses letzte Jahr hat es verändert, der Tod ist an mich herangerückt. Ich habe viel an meinen eigenen Tod denken müssen, er ist zu einer Möglichkeit geworden, zu einer Tatsache. Mein Tod ist vorstellbar, ich muss mit ihm rechnen, also rechne ich mit ihm. Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, wie ich meinen Nachlass regle, was ich in meine Ordner hefte, damit meine Familie nicht lange wird suchen müssen. Wie meine Kinder danach weiterleben werden.

Marlen Haushofer: Alles wird vergebens sein
Aufgeschrieben 1970, kurz vor ihrem Tod.
(aus: marlenhaushofer.ch/biografie/abschied/)

Mach dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zuwenig gesehen, wie alle Menschen vor dir. Du hast zuviel geweint, vielleicht auch zuwenig, wie alle Menschen vor dir. Vielleicht hast du zuviel geliebt, und gehaßt – aber nur wenige Jahre – zwanzig oder so. Was sind schon zwanzig Jahre? Dann war ein Teil von dir tot, genau wie bei allen Menschen, die nicht mehr lieben oder hassen können.

Du hast viele Schmerzen ertragen, ungern wie alle Menschen vor dir. Dein Körper war dir sehr bald lästig. Du hast ihn nie geliebt. Das war schlecht für dich – oder auch gut, denn an einem ungeliebten Körper hängt die Seele nicht sehr. Und was ist die Seele? Wahrscheinlich hast du nie eine gehabt, nur Verstand, und der war nicht gedenkend der Gefühle. Oder war da manchmal noch etwas anderes? Für Augenblicke? Beim Anblick von Glockenblumen oder Katzenaugen und des Kummers um einen Menschen, oder gewisser Steine, Bäume und Statuen; der Schwalben über der großen Stadt Rom.

Mach dir keine Sorgen.

Auch wenn du mir einer Seele behaftet wärest, sie wünscht nichts als tiefen, traumlosen Schlaf. Der ungeliebte Körper wird nicht mehr schmerzen. Blut, Fleisch, Knochen und Haut, alles wird ein Häufchen Asche sein, und auch das Gehirn wird endlich aufhören zu denken. Dafür sei Gott bedankt, den es nicht gibt.
Mach dir keineSorgen – alles wird vergebens gewesen sein – wie bei allen Menschen vor dir. Eine völlig normale Geschichte.

1963, schon schwerkrank, schrieb Haushofer den Roman „Die Wand“. Thema: Wie kommt ein Mensch in völliger Isolation zurecht: Wie überlebt er, und was macht das Alleinsein mit ihm?
Verfilmt wurde „Die Wand“ 2012, lange nach Haushofers Tod; ein extrem gutes Kammerspiel mit Martina Gedeck.

Karl Ove Knausgård: Lieben
btb, 12. Auflage 2013

Welchen Wert hatte das Menschliche in diesem Universum? Was war der Mensch auf Erden anderes als Getier unter anderem Getier, ein Leben unter anderen Leben, die sich ebensogut manifestieren konnten als Algen in einem See oder Pilze auf einem Waldboden, Rogen in einem Fischbauch, Mäuse in einem Nest oder einer Traube Muscheln auf einer Schäre? Warum sollten wir das eine tun, aber nicht das andere, wenn es ohnehin kein anderes Ziel oder keine andere Richtung im Leben gab, als dass wir uns zusammenballten, lebten und schließlich starben? Wer fragte nach dem Wert dieses Lebens, wenn es für immer fort war, verwandelt in eine Handvoll feuchter Erde und ein paar verblichene, spröde Knochen?

… denn Sinn ist nichts, was wir bekommen, sondern etwas, das wir geben. Der Tod macht das Leben sinnlos, weil alles, wonach wir jemals gestrebt haben, mit ihm aufhört, und er macht das Leben sinnvoll, weil seine Gegenwart das wenige, was wir davon haben, unverzichtbar, jeden Augenblick kostbar macht. Aber in meiner Zeit war der Tod entfernt worden, er existierte nur noch als fester Bestandteil in Zeitungen, Fernsehnachrichten und Filmen, wo er nicht den Abschluss eines Verlaufs markierte, die Diskontinuität, sondern angesichts der täglichen Wiederholung im Gegenteil eine Verlängerung des Verlaufs, eine Kontinuität bedeutete, und so seltsamerweise zu unserer Sicherheit und unserem Halt geworden war. 

Andrzej Stasiuk: Kurzes Buch über das Sterben
Auszug aus „Die Hündin“
suhrkamp taschenbuch 4421
Suhrkamp Verlag Berlin, 2013

… Ich schreibe das alles, weil ich zum ersten Mal den langsamen, sich hinziehenden Tod eines Wesens betrachte, mit dem wir über Jahre hin fast jeden Augenblick des Lebens geteilt haben. Ich spreche mit Leuten darüber, die sagen, es sei am vernünftigsten, die Hündin einzuschläfern. (Das ist übrigens ein interessanter Euphemismus. Niemand sagt „töten“. Alle reden vom „Einschläfern“, das heißt, von etwas Sanftem und gleichsam Vorübergehendem.)

… Doch aus irgendeinem Grund werde ich den Gedanken an die Menschen nicht los, die an all den sorgsam verborgenen Orten liegen, die dem Sterben dienen. Diese Menschen sind nutzlos. Sie verschlingen Energie, Geld, Arbeit und erregen Ungeduld oder Gleichgültigkeit. Ich weiß, wie es abläuft, ich habe es viele Male gesehen: Drei, vier Leute vom Pflegepersonal, mit Latexhandschuhen, kommen ins Zimmer. Zwei heben den fast schwerelosen Körper empor, die anderen nehmen rasch die Windel ab, waschen, legen eine neue an. Nach drei Minuten ist keine Spur mehr davon zu sehen, dass irgendetwas geschehen ist. Nur ein seltsamer menschlich-unnatürlicher Geruch hängt noch in der Luft. Vielleicht ist es einfach der Geruch des Menschen, der uns mit Entsetzen erfüllt, der uns abstößt und verfolgt, deshalb sperren wir ihn an diesen fernen und unsichtbaren Orten ein. Wir bezahlen die Leute mit den Latexhandschuhen dafür, dass sie diesen Geruch für uns einatmen. Wir bezahlen sie dafür, dass sie das Sterben begleiten. Letzten Endes bezahlen wir sie dafür, dass sie in gewisser Weise für uns sterben. Denn wenn wir am Tod anderer Menschen, am Tod Angehöriger teilnehmen, sterben wir selbst ein bisschen, werden selbst ein bisschen sterblicher. Wir kaufen uns einfach eine weitere Dienstleistung, um selbst keine Zeit zu verlieren. Um diesen Geruch nicht einatmen zu müssen. …

Unnützes Leben können wir loswerden. Da wir gelernt haben, das Leben zu verlängern, gestehen wir uns auch das Recht zu, es zu verkürzen, denn seit einiger Zeit scheinen wir alles in der Hand zu haben. In früheren Epochen, vor dem Humanismus, war der Tod grausam, er kam oft zu früh, aber das Leben dauerte bis an sein Ende. Darüber entschied das Schicksal. Das Schicksal gehört allmählich der Vergangenheit an. Schicksal wird es bald nicht mehr geben. Vorläufig entfernen wir es aus unserem Alltag und verschieben es in Kranken- und Sterbehäuser. …

   Ich schreibe und schaue auf die Veranda. Die Hündin hat gefressen und sich wieder zusammengerollt in ihrer Höhle aus Schlafsäcken und Decken. Unsere junge braune Katze geht ihr nach und legt sich daneben, in die Wärme des erkaltenden Körpers.